“Die Bio Klasse” in den Ehemaligen-Nachrichten: in jeder Ausgabe wird eine ehemalige Bioschülerin oder ein Bioschüler porträtiert. Das erste von Urs Mannhart verfasste Porträt widmet sich dem Projekt SlowGrow in Mönchaltdorf ZH.
Neu gedacht, anders gepflanzt
Zwischen Uster und Wetzikon, eine halbe Eisenbahnstunde hinter Zürich, hockt Matthias Hollenstein im Nebel. Der Greifensee liegt bloss einen Steinwurf entfernt, wahrscheinlich ist die Landschaft gar malerisch, postkartenfähig, aber heute verliert sich jeder Blick nach hundert Metern im diffus blassgrauen Nichts. Wie bestellt und nicht abgeholt stehen hünenhafte Hochspannungsmasten im Feld, im Gesträuch raschelt ein gesangsmüder Vogel, von der vielbefahrenen Strasse her mieft es nach Agglomeration, und bisweilen blickt die Sonne als hellglänzendes Ziegenkäslein hinab
auf die tief im Winterschlaf versunkene Landschaft.
«Kann man einen Hof ohne Wohnhaus pachten und sich dennoch gemütlich einrichten?»
Diese Landschaft, das war die frühe Heimat Matthias’, hier hat er seine Jugend verbracht. In Mönchaltdorf. Und nach bunten Umwegen ist diese Landschaft seine neue Heimat; hier lebt der 33-Jährige zusammen mit seiner Frau Pamina, 29, und den beiden kleinen Kindern. Wobei Heimat etwas schief klingt; auch mit der Heimat ist es ja heute komplizierter, jedenfalls anders als herkömmlicherweise gedacht. Und genau dieser Sachverhalt – also dass die Worte und die Welt, genauer besehen, anders sind, dass alles stets ist, was man daraus macht, dass es viel zu erforschen, zu verbessern gibt und dass es oftmals genau dann am besten funktioniert, wenn alle sagen: «Nein, vergiss es!» – genau dieser Sachverhalt und ein unnachgiebiger Umgang damit gehören zu Matthias Hollenstein wie seine bestechend blauen Augen.
Nein, die Behauptung, der Kopf sei rund, damit das Denken die Richtung wechseln könne, stammt nicht von Hollenstein. Aber es wäre nicht verwunderlich. Es soll hier nicht gelobhudelt werden; dennoch sei es erlaubt zu fragen: Kann man einen Hof ohne Wohnhaus pachten und sich dennoch gemütlich einrichten? Kann man das wirtschaftliche Rückgrat eines Hofs, die Milchkühe, links liegen lassen und einen Stall als Gemüselager verwenden? Kann man eine Eckbank, einen Stubentisch und einen mobilen Herd in ein winziges Milchzimmer bugsieren, um es als WG-Küche und
Betriebsbüro zu nutzen? Darf, wer kein Geld hat für Angestellte, auf die Mitarbeit von Freunden zählen? Nein, natürlich nicht. So etwas kann nicht funktionieren. Ausser man ist ignorant und macht es trotzdem. Wie Matthias Hollenstein mit seinem Projekt SlowGrow. Die Selbstverständlichkeit, mit der er improvisiert, umdenkt, tüftelt, umbaut und anregt, ist verblüffend. Bis rätselhaft.
Sicher ist nur, Matthias ist überzeugt. Hat Ausdauer. Macht seine Sache mit ansteckend guter Laune. Mit der modischen Mütze, der Kapuzenjacke über dem Kapuzenpulli und dem Siebentagebart sieht er jetzt, wie er da im staubigen Zimmer sitzt, überhaupt nicht wie ein Landwirt aus. Eher wie ein Snowboarder zwischen zwei Abfahrten. Entspannt, aufmerksam, den Humor griffbereit im Mundwinkel. Und was macht er in diesem Milchzimmer, morgens um zehn? Er beschäftigt sich mit Websites, grafischem Design, mit Serifen. Es geht um ein neues Erscheinungsbild von SlowGrow. Das ist etwas zwischen Einzelfirma und Vision, zwischen GmbH und Freundeskreis. Mit im Boot sitzt Sam, bürgerlich Samuel Bähler, 36-jährig, ebenfalls Demeter Landwirt. Im Zentrum der Idee: wertvolle Lebensmittel aus intakter Landschaft; regenerative Landwirtschaft. Das ist für Matthias kein Schlagwort, sondern gelebte Praxis.
«Kann denn einer, der sich mit Serifen beschäftigt, überhaupt ein richtiger Landwirt sein?»
Kann denn einer, der sich mit Serifen, genauer: mit der Frage beschäftigt, ob SlowGrow einer Schrift geschrieben werden soll, die kleine Querstriche am oberen und unteren Ende der Buchstaben aufweist, überhaupt ein richtiger Landwirt sein? Hollenstein gibt sich Zeit, Themen anzugehen, die in der Landwirtschaft eigentlich nicht vorgesehen sind. Zum Beispiel mit dem Ausbringen von Holzschnitzeln, mit Pilzsubstraten, mit Riedstreu, mit Grasschnitt, viel Grasschnitt, mit dem Fuchs auch, der auf dem Acker lebt: Weil Matthias den Boden nicht oder nur schonend bearbeitet, bleibt
der Fuchs in seinem Bau.
Der Boden ist überhaupt seine Leidenschaft: In den vier Jahren seiner Ausbildung zum biodynamischen Landwirt habe er, erzählt Matthias, zwischen Hamburg und Tunesien ungefähr hundert Bauernhöfe besucht — und bei fast allen sei der Boden, er sagt es in breiter Zürcher Mundart: im Arsch. Dies habe ihn angeregt, einen Versuchsbetrieb aufzubauen. Um mit komplett anderen, humusfreundlichen Methoden wertvolle Nahrungsmittel hervorzubringen. Das Resultat wird geschätzt: Inzwischen beziehen circa fünfzehn Gastronomie-Betriebe ihr Gemüse bei SlowGrow. Wenn Matthias über seine Ausbildung spricht, wird klar, er schätzt, was er dort gelernt hat. Feste Meinungen aber halten seinem Denken nicht stand, und für das, was er in Mönchaltdorf umsetzt, gibt es kein FiBL-Merkblatt; das wertvollste Lehrbuch sind ihm die Pflanzen selbst.
«Stickstoff? Mist? Hollenstein düngt hier im Grunde gar nichts.»
Benötigt denn, wer auf zwanzig Hektar Getreide und Gemüse anbaut, nicht tonnenweise Stickstoff – also Kuhmist? Wenn er an Düngerberechnungen denkt, muss Hollenstein lachen. Er düngt hier im Grunde gar nichts. Der Mist, der von den durch Pamina betreuten Ponys und Pferden anfällt – er weiss noch nicht, wo er mit ihm hin soll. Was ihn interessiert, sind die Kohlenstoff-Kreisläufe. Deswegen die Holzschnitzel, das Pilzsubstrat.
Sorgenfrei geht er ebenfalls das Thema der Mitarbeiter/innen an. Auch wenn wieder 150 verschiedene Gemüsesorten geplant sind: Pamina, Sam und Matthias blicken entspannt auf den kommenden Sommer. Es gibt bei SlowGrow kein Gemüse-Abo, keine Solawi mit geregelten Arbeitsstunden. Es gibt einfach diese Felder und eine grosse Offenheit. Das wirkt magnetisch. Freunde tauchen auf, viele Freunde, wirken mit, bringen sich ein – und nehmen von der Ernte, was sie gerade brauchen.
So erstaunt es nicht, dass auch heute, wo Matthias und Samuel den federleichten Samro an den Traktor hängen, um einige Topinambur aus dem Boden zu holen, mit Maxim und Michael zwei da sind, die gerne mitarbeiten, die nicht in erster Linie an Stundenlohn, sondern an einer sinnvollen Tätigkeit interessiert sind. Matthias nennt sie weder Angestellte noch Helfer. Mitwirkende klingt besser in seinen Ohren. Mit oder ohne Serifen.
https://www.slowgrow.ch/ erschienen in den Ehemaligen-Nachrichten 01/2020
Über den Autor
Urs Mannhart, 45, Schriftsteller und Reporter, hat im Sommer 2018 die Bioschule abgeschlossen, engagiert sich nun teilzeitlich auf einem biodynamischen Hof und verfasst die Porträts der ehemaligen Schülerinnen und Schüler.